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Schulmedizin und Alternativmedizin: der Dialog hat begonnen

Von Buelent Erdogan-Griese | 2.Februar 2011

Die Schulmedizin hat in den vergangenen Jahrzehnten beeindruckende Erfolge im Kampf gegen viele Krankheiten erzielen können. Dennoch setzen Millionen Deutsche und mit ihnen viele Ärztinnen und Ärzte auch auf alternativmedizinische Heilverfahren. In der Vergangenheit standen sich Schul- und Alternativmediziner oft unversöhnlich gegenüber, doch gibt es nun auch Versuche einer Annäherung.

Der Folgende Artikel wurde ursprünglich im Rheinischen Ärzteblatt (Januar 2011) publiziert. Das Rheinische Ärzteblatt ist das offizielle Mitteilungsblatt der Ärztekammer Nordrhein und der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein für den Landesteil Nordrhein (Regierungsbezirke Köln und Düsseldorf). Die Ärztekammer Nordrhein ist die berufliche Vertretung für 52.000 Ärztinnen und Ärzte im Rheinland

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von Bülent Erdogan-Griese

Für die einen ist sie Scharlatanerie, bestenfalls unschädlicher Hokuspokus. Für die anderen ist sie ein zu Unrecht verschmähter, im Zuge der Technisierung verschütteter Teil der medizinischen Kunst: Seit Jahrzehnten schwelt in Deutschland ein mitunter dogmatisch geführter Streit um die Alternativmedizin und ihre Relevanz, ihre Chancen und Grenzen in einer schulmedizinisch und naturwissenschaftlich geprägten Gesundheitsversorgung. Lange Zeit standen sich Befürworter und Gegner einer Medizinrichtung, die auch als Komplementärmedizin firmiert, unversöhnlich gegenüber. Doch seit einigen Jahren entwickelt sich ein Dialog, der auch der Wirklichkeit Rechnung trägt: Etwa jeder zweite Deutsche hat Schätzungen zufolge zumindest schon einmal alternativmedizinische Methoden ausprobiert. Nach Angaben des Deutschen Zentralvereins homöopathischer Ärzte praktizieren fast 60 Prozent der Hausärztinnen und Hausärzte eine oder mehrere Methoden der Komplementärmedizin. Etwa 60.000 Ärztinnen und Ärzte haben eine Zusatzweiterbildung in Naturheilverfahren, Homöopathie, Akupunktur oder Chirotherapie. Um Schulmedizin und Alternativmedizin wieder stärker in Kontakt miteinander zu bringen, gründete im Jahr 2000 ein Kreis von Ärzten und Wissenschaftlern bei der Ärztekammer Nordrhein in Düsseldorf das „Dialogforum Pluralismus in der Medizin“. Zu den Initiatoren gehört auch der Präsident der Ärztekammer Nordrhein und der Bundesärztekammer, Professor Dr. Jörg-Dietrich Hoppe. Anfang 2010 zog das Dialogforum nach Berlin um und ist seitdem bei der Bundesärztekammer angesiedelt.

Maximal 40 Prozent der Medizin sei evidenzbasiert und finde sich früher oder später in wissenschaftlichen Leitlinien wieder, sagte Hoppe bei der Feier zum zehnjährigen Jubiläum des Forums in der Hauptstadt. Bei der Behandlung komme es neben der schulmedizinischen Expertise immer auch auf Erfahrung und Persönlichkeit des Arztes an. Häufig sei es im Sinne des Patienten, komplementärmedizinische Verfahren zumindest zu besprechen. Nach Ansicht Hoppes, der der Alternativmedizin als Medizinstudent selbst mit Skepsis begegnete, hängen Heilerfolge nämlich nicht nur von der Qualität der Intervention einer technisch entwickelten Medizin ab. Von großer Bedeutung für den Heilerfolg seien eben auch die seelischen Bedingungen und sozialen Umstände sowie begleitende und stützende komplementäre Therapien, auch im Sinne der Aktivierung der Selbstheilungskräfte des Patienten. Krankheiten und Heilungsprozesse haben für den Ärztepräsidenten demnach auch eine „außernaturwissenschaftliche Dimension“.

„Veradministrierte Behandlungsumwelt“

Viele Patienten jedenfalls wünschen sich laut Hoppe eine komplementärmedizinische Behandlung. Doch noch seien die Weichen hierfür politisch nicht gestellt. „Ein homöopathisch tätiger Arzt beschäftigt sich mit einem Patienten beim ersten Kontakt eine halbe bis dreiviertel Stunde“, sagte Hoppe, „so viel Zeit hat ein Vertragsarzt im schulmedizinischen Sektor nicht. Der muss innerhalb von fünf bis zehn Minuten ein Behandlungskonzept ausarbeiten.“ Ärztinnen und Ärzte müssten sich heute einer vom Staat „veradministrierten Behandlungsumwelt“ stellen und sich beispielsweise mit Disease-Management-Programmen oder Fallpauschalen auseinandersetzen. Als Konsequenz dieser Entwicklung bleibt für Hoppe die zwischenmenschliche Dimension des Arzt-Patienten-Kontakts – und so ein wesentlicher Wirkfaktor ärztlicher Tätigkeit und Heilkunst – auf der Strecke. Dabei sei die Medizin in erster Linie eine Erfahrungswissenschaft.

Auch Professor Dr. Stefan N. Willich, Direktor des Instituts für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Berliner Universitätsklinik Charité, setzt sich für eine Verständigung zwischen Schul- und Alternativmedizinern ein. Die Frontstellung der vergangenen Jahrzehnte ist seiner Ansicht nach zuallererst auf Kosten der Patienten gegangen: „Das führte dazu, dass sich der Patient im besten Fall entscheiden musste, ob er zum Schulmediziner oder zum Alternativmediziner gehen soll. Im schlimmsten Fall geriet er zwischen die Stühle“, sagte Willich. So hätten sich Patienten früher oft nicht getraut, ihrem Homöopathen davon zu berichten, dass sie natürlich gleichzeitig auch schulmedizinische Angebote in Anspruch nähmen – und umgekehrt.

Um das langfristig und nachhaltig zu ändern, setzt sich Willich dafür ein, dass Medizinstudenten schon früh in ihrer Ausbildung objektiv über Möglichkeiten beider Medizinzweige informiert werden. Er wünscht sich zudem einen Unterricht, der stärker auf die Empathiefähigkeit der Studenten abzielt. Ziel sei eine integrative Medizin, zum Beispiel durch die Kooperation von Schul- und Komplementärmedizinern in Fallkonferenzen, wie dies an der Charité, Europas größter Uniklinik, bereits der Fall ist. Die Etablierung eines Facharztes für Integrative Medizin strebt Willich dagegen ausdrücklich nicht an.

Keine Therapie-Beliebigkeit

Doch ist der Nutzen von Osteopathie, Akupunktur oder Heilkräuterkunde zu belegen? In der öffentlichen Debatte ist das Thema weiter heiß umstritten. „Rückfall ins Mittelalter“ überschrieb erst jüngst ein Nachrichtenmagazin seinen Beitrag über die Homöopathie. In Großbritannien kamen Kritiker dieser Methode in verschiedenen Städten vor Apotheken zu einem Happening zusammen und versuchten, sich mit Arsenglobuli zu vergiften – dass dies natürlich nicht gelang, gehörte zum Protest-Drehbuch. Und in Deutschland fordert Dr. Karl Lauterbach, gesundheitspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und Arzt, das Verbot von Homöopathie-Wahltarifen in der Gesetzlichen Krankenversicherung.

Nach Ansicht von Ärztepräsident Hoppe ist es Aufgabe der Ärzteschaft, unseriöse und fragwürdige Therapien von sinnvollen abzugrenzen. Die Forderung nach einem Pluralismus in der Medizin will er also nicht als Aufruf zur Therapie-Beliebigkeit missverstanden wissen. Ärztinnen und Ärzte blieben in ihrem Handeln der Wissenschaftlichkeit verpflichtet. Eine kritische Prüfung von alternativen Therapien sei daher notwendig. Jedoch müsse deren Methodik nicht eins zu eins der naturwissenschaftlich orientierten Universitätsmedizin entsprechen, so Hoppe weiter. Das machten die Mitglieder des Dialogforums bereits im März 2010 in einem Beitrag für das Deutsche Ärzteblatt deutlich (Dtsch Arztebl 2010; 107(12): A548-50). Grundsätzlich erkennen sie darin die Bedeutung randomisierter klinischer Studien (RCTs) an. Gleichwohl machen sie darauf aufmerksam, dass RCTs häufig nicht realisierbar sind. So könnten wirtschaftliche oder ethische Gründe oder aber eine starke Therapiepräferenz bei Ärzten und Patienten RCTs vereiteln. RCTs könnten zudem zu falschen Ergebnissen führen, speziell bei Behandlungen, „die von spezifischen professionellen Fertigkeiten abhängig sind“. Darüber hinaus könne die vorhandene Evidenz auch schon ohne RCT überzeugend genug sein: „Es ist deswegen in einem pluralistischen Spektrum von Therapiemöglichkeiten die best evidence nicht zwangsläufig die best therapy.“

Während sich die Alternativmedizin trotzdem immer wieder Unwissenschaftlichkeit und Quacksalberei vorhalten lassen muss, können Misserfolge in der Schulmedizin kaum an deren Image kratzen – selbst wenn sich zum Beispiel herausstellt, dass Medikamente trotz angeblich wissenschaftlicher Belege keinen Nutzen haben oder gar schwere Schäden anrichten. Oder dass operiert wird, wo doch eher konservative Therapie eine Chance erhalten sollte. Hinzu kommt, dass der Komplementärmedizin das Etikett anhaftet, reine Placebo-Medizin zu sein. Allerdings ist der Placebo-Effekt „manchmal auch in der Schulmedizin erstaunlich stark“, wie Professor Dr. Robert Jütte sagte, der Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung. Auch laut Wissenschaftlichem Beirat der Bundesärztekammer ist der Placebo-Effekt jeder Standard-Therapie immanent.

Fehlende Forschungsgelder

Das vielleicht noch größere Dilemma ist, dass Forschung auf dem Gebiet der Alternativmedizin ein Steckenpferd privater Institutionen wie der Karl und Veronica Carstens-Stiftung oder der Robert Bosch Stiftung ist. Leider habe sich der Bund in den neunziger Jahren aus der Forschungsförderung zurückgezogen, so Jütte. Und die Industrie, die 80 Prozent der medizinischen Forschung finanziere, habe kein Interesse, einzuspringen. Um Forschung in der Komplementärmedizin auf hohem Niveau zu betreiben, etwa mittels sogenannter Health-Technology-Assessments (HTA), müsse der Staat wieder Mittel bereitstellen, forderte Jütte.

Dass verschiedene alternativmedizinische Behandlungskonzepte, etwa die Akupunktur, wirken, davon ist Jüttes Mitstreiter Stefan Willich überzeugt. Nur das Warum sei, auch angesichts der bisher kaum stattfindenden alternativmedizinischen Forschung, noch immer in weiten Teilen unklar. Zehn Jahre nach der Gründung des Dialogforums in Düsseldorf geht es Willich um die Etablierung der Komplementärmedizin bei den gesundheitspolitischen Entscheidungsträgern auf Bundesebene – und damit auf lange Sicht auch um eine ideelle wie finanzielle Absicherung sinnvoller Verfahren und Methoden bis hin zu Erstattungsregelungen. Vorstellbar sei auch eine Harmonisierung der Alternativmedizin auf europäischer Ebene.

Willich räumte ein, dass die unterschiedlichen komplementärmedizinischen Schulen anders als die Schulmedizin derzeit noch nicht über eine einheitliche Terminologie verfügen. Dies führe mitunter bis zur Unfähigkeit, miteinander zu kommunizieren. Ebenso fehle ein gemeinsames Qualitätsmanagement, sagte er. Positiv sei, dass die Komplementärmedizin den ganzen Menschen und seine Leiden in den Fokus nehme – und dabei auch Gesamttherapiesysteme beleuchte. In einer von zunehmender Multimorbidität geprägten Gesellschaft sieht er darin substanzielle Vorteile und wirbt um eine Synthese beider Richtungen. Willich: „Ich glaube, beide Lager haben Stärken und Schwächen und können voneinander lernen.“

Ende des „Kalten Krieges“?

Nach Ansicht des Philosophen Dr. Gerd B. Achenbach verbindet Schulmediziner und Komplementärmediziner ohnedies mehr, als ihnen im Widerstreit des Alltags bewusst ist. Achenbach ist Lehrpraktiker der „Internationalen Gesellschaft für Philosophische Praxis“. Es sei die Schulmedizin selbst, die der Alternativmedizin „den Weg bereitet und sie als kaum verzichtbare Ergänzung nötig macht“, sagte Achenbach bei seinem Festvortrag (Titel: „Aussichten auf ein Ende des Kalten Krieges im Reich der Medizin“) zum zehnjährigen Jubiläum des Forums. Auf der anderen Seite bedürfe die Alternativmedizin als die der vormodernen Medizin näher stehende „weiche“ Heilkunst der wissenschaftlich etablierten Medizin, „und sei es zur Kontrolle“.

„Je erfolgreicher die Medizin in ihrem Kampf gegen die Krankheiten ist, desto mehr Kranke erzeugt sie“, so Achenbach, der dies als „Kulissen-Effekt“ bezeichnet. Schieben Ärztinnen und Ärzte eine Krankheit beiseite, erscheint auf der Bühne des Lebens die nächste. „In dem Maße, in dem Herz-Kreislauf-Krankheiten beherrschbar werden, in dem Maße werden die Patienten nun umso wahrscheinlicher Opfer eines Karzinoms. Und werden in der Onkologie weitere Erfolge erzielt, was absehbar ist, nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, als älterer Patient an der Parkinsonschen oder der Alzheimer-Krankheit zu erkranken.“ Die Medizin könne also nur relative Siege im Kampf gegen den Tod erringen, am Ende gehöre doch dem Tod „das letzte Wort“.

Im Angesicht der nicht mehr handhabbaren „letzten“ Krankheit erstarre der Mensch vor einer „kalten Welt der Technik der Apparate“, die ihm nun als „Inkarnation des Todes“ selbst erscheine und ihn erschrecke. „Der medizinische Kampf gegen den Tod ,bis zum letzten Atemzug‘ erscheint jetzt seinerseits als tödliche Bedrohung, der Tod selbst hingegen avanciert zum Retter aus den Griffen einer als fatal empfundenen, unbarmherzigen Maschinerie, die den Sterbenden ,seinen‘ Tod nicht sterben lasse“, so Achenbach. Folge sei eine Hinwendung des Menschen zu einer „sanften, verständnisbereiten, menschlich teilnehmenden Heilkunst“, während die Spitzenmedizin dazu führe, dass sich der Mensch als „fragmentarisiert“ empfinde.

Die wissenschaftlich approbierte Medizin könne daher „gut beraten sein, wenn sie so viel wie eben möglich und gestattet ist von jener anderen Medizin und Heilkunst für sich selber übernähme, wenn sie (…) wieder integrierte, was sie selber exilierte, was sie aus dem Weg geräumt, ausgeklammert und nach und nach vergessen, dem Fortschritt geopfert hat. Denn: In der anderen Heilkunst begegnet sie sich selbst, und zwar als die, als die sie sich im Zuge ihrer Selbstverpflichtung auf Modernität und Wissenschaft verlieren musste.“

Mit einem Bild aus Goethes „Maximen und Reflexionen“ (Nr. 1315) warb Achenbach um eine Versöhnung von Schul- und Alternativmedizin. Darin heißt es: „Jedem Alter des Menschen antwortet eine gewisse Philosophie. Das Kind erscheint als Realist; denn es findet sich so überzeugt von dem Dasein der Birnen und Äpfel als von dem seinigen. Der Jüngling, von innern Leidenschaften bestürmt, muß auf sich selbst merken, sich vorfühlen: er wird zum Idealisten umgewandelt. Dagegen ein Skeptiker zu werden, hat der Mann alle Ursache; er tut wohl, zu zweifeln, ob das Mittel, das er zum Zwecke gewählt hat, auch das rechte sei. Vor dem Handeln, im Handeln hat er alle Ursache, den Verstand beweglich zu erhalten, damit er nicht nachher sich über eine falsche Wahl zu betrüben habe. Der Greis jedoch wird sich immer zum Mystizismus bekennen. Er sieht, daß so vieles vom Zufall abzuhängen scheint: das Unvernünftige gelingt, das Vernünftige schlägt fehl, Glück und Unglück stellen sich unerwartet ins gleiche; so ist es, so war es, und das hohe Alter beruhigt sich in dem, der da ist, der da war und der da sein wird.“

„Könnte es wohl sein“, so Achenbach, „dass die ordentliche, die offizielle Medizin jener Haltung und Philosophie entspricht, die hier, bei Goethe, vom Erwachsenen vertreten wird? Und könnte wohl manches von dem, was sich als alternativ dazu im Reich der Medizin bewegt, jenem Mystizismus des Greisenalters verwandter sein, einem Greisenalter, in dem, wie wir wissen, so manches Kindliche noch einmal wiederkehrt?“

Das Dialogforum im Internet: www.dialogforum-medizin.org

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