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Prof. Harald Walach: „Wissenschaft als Entdeckungsreise – mein Begriff von Wissenschaft“ (Teil 1)
Von DZVhÄ Homöopathie.Blog | 17.März 2011
Wissenschafts-Magazine, -Sendungen und -Medien erlebten in den letzten Jahren einen großen Aufschwung. Das öffentliche Interesse an Forschung und neuen Erkenntnissen ist groß. Die teils inflationäre Nutzung des Begriffs „Wissenschaft“ garantiert allerdings weder Methodik noch Wissen. Nicht selten driftet Wissenschafts-Journalismus in naiven Szientismus voller neopositivistischer Vorurteile ab. Wissenschaft wird hier als ein quasidogmatisches System verstanden, in dem es fest in Beton gegossene Regeln, starre Grundsätze und unumstößliche Gegebenheiten gibt. Moderne und neuere Ansichten betrachten Wissenschaft jedoch vielmehr als einen hochkomplexen sozialen Vorgang, im Rahmen dessen es Interessen, Ressourcen und Meinungsbildungsprozesse gibt. Im folgenden Beitrag stellt der in Grenzbereichen der Wissenschaft tätige klinische Psychologe, Wissenschaftshistoriker und Philosoph Harald Walach sein Verständnis von Wissenschft dar.
Dieser Artikel wurde dem Buch „Wege zur Wissenschaft“ von Hamid Reza Yousefi, Klaus Fischer, Rudolf Lüthe, Peter Gerdsen (Hrsg.), 375-401, Traugott Bautz, Nordhausen 2008 entnommen. Copyright: Verlag Traugott Bautz. Informationen zur Person Harald Walach finden Sie ganz unten auf dieser Seite.
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Prof. Dr. Dr. phil. Harald Walach: „Wissenschaft als Entdeckungsreise – mein Begriff von Wissenschaft“¹
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Zusammenfassung:
Im vorliegenden Aufsatz wird ein Wissenschaftsbegriff aus der Sicht und langjährigen Erfahrung eines vor allem mit wissenschaftlichen Grenzfragen befassten Forschers skizziert. Wissenschaft wird vom Verfasser entgegen eines verbreiteten naiv-dogmatischen Verständnisses nicht als geschlossenes Regelsystem, sondern als notwendig offener und wandlungspflichtiger Prozess verstanden. Kritik wird als wesentliches Merkmal von Wissenschaft hervorgehoben, die vom Verfasser nicht als fertiges System, sondern als ein zutiefst sozialer Prozess gesehen wird: Wissenschaft wird als ein kollektives Spiel verstanden, das seine Regeln durch das Spielen selber erfindet, verändert und dadurch das eigene Gepräge laufend anpasst.
Gute Wissenschaft wird als die institutionalisierte Unsicherheit verstanden. Wissen kann kumulativ sein, indem es sich durch Kritik differenziert, Neues entdeckt, neue Hinsichten auf alte Tatbestände entfaltet und Bereiche integriert, die vorher nicht denkbar waren, weswegen eine dogmatische Wissenschaftsauffassung als einziger Feind von echter Wissenschaft und wirklichem Wissen zu betrachten ist. Der Verfasser vertritt die Ansicht, dass Phänomene vor Theorien gehen, auch wenn die merkwürdige Dialektik nicht abgestritten werden kann, dass Phänomene nur durch die Brille einer guten Theorie wahrgenommen werden können. Abschließend wird die Denkfigur der Komplementarität als wissenschaftstheoretisches Integrationsprinzip vorgestellt.
Was macht Wissenschaft aus?
Wer sich wie ich vor allem mit Grenzfragen der Wissenschaft herumschlägt – Erforschung und Theoriebildung der Homöopathie, Evaluation von Komplementärmedizin, Forschung im Bereich der Parapsychologie, des geistigen Heilens, klinische und psychologische Forschung zur Achtsamkeit, theoretische Fragen der Spiritualität und des Bewusstseins –, der wird vom Wissenschaftssystem laufend mit der Frage nach der „Wissenschaftlichkeit“ seines Tuns konfrontiert. Damit verbunden ist die Frage danach, was Wissenschaft eigentlich ausmacht.
Ich bin im Laufe meiner nun etwa 20jährigen Laufbahn mit vielen verschiedenen Begriffen von Wissenschaft konfrontiert worden. Sie lassen sich in zwei grobe Kategorien einteilen: Begriffe, die Wissenschaft als geschlossenes Regelsystem verstehen, und solche, die Wissenschaft als offenen Prozess deuten. Ich fühle mich dieser letzten Kategorie verbunden. Meine private, in meinem kleinen Wissenschaftstheorie-Lehrbuch für Psychologiestudenten zum ersten Mal veröffentliche Definition von Wissenschaft ist diese (2):
Wissenschaft ist ein kollektiver Versuch, die Welt in der wir leben, besser zu verstehen, Einsichten darüber zu erlangen und sich dabei nach Möglichkeit durch methodische Sicherungen vor Irrtum zu schützen.
Voraussetzungen
Ich mache dabei, wie der kritische Leser bemerkt haben wird, einige entscheidende Voraussetzungen:
Die Existenz einer von uns unabhängigen Welt
1. Die erste Voraussetzung ist die, dass es so etwas wie eine von uns unabhängige Welt überhaupt gibt. Damit ist also jedem radikalem solipsistischen oder konstruktivistischem Gedanken abgesagt. Das heisst nicht, dass nicht unsere Wahrnehmung, individuell und kollektiv, jede Menge konstruktiver Akte vollzieht, bevor wir irgendetwas wahrnehmen. Insofern ist der Kantsche kritische Impuls, dass unser Zugang zur Welt immer ein vermittelter ist – durch Kategorien, oder Wahrnehmungsvoraussetzungen – immer noch gültig. Aber es ist nicht sinnvoll, jeden objektiven Zug unserer Welt zu bestreiten und alles als Konstruktion, Narration oder individuellen Standpunkt abzutun (3). Flugzeuge fliegen – meistens – nicht weil wir das so wollen, sondern weil es offenbar Gesetzmäßigkeiten gibt, die zu entdecken sich lohnte und zur Konstruktion von fliegenden Riesenvögeln aus Metall führen konnten. Ich setze also einen milden Realismus voraus.
Die Spannung zwischen Konstruktivismus und Realismus
2. Dieser Sachverhalt wurde oftmals dazu verwendet so zu tun, als wäre die objektive Realität „dort draussen“ alles, was zählt. Viele, vor allem ältere Wissenschaftsbegriffe, von Duhem bis zu den Positivisten des Wiener Kreises, bis heute, sind von diesem objektiven Realismus der Physik geprägt. Dieser übersieht, was im Prinzip bereits durch die aristotelische Psychologie, aber ganz dezidiert durch Kant eingebracht wurde: dass wir nie einen naiv-abbildenden Zugang zur Wirklichkeit haben. Unsere Wahrnehmung ist immer irgendwie und oft in erheblichem Maße Konstruktion. Ich finde es erfreulich, dass die moderne Neurowissenschaft zusammen mit der Kognitionspsychologie diese Voraussetzungen unserer Wahrnehmung so deutlich aufgezeigt hat (4).
Leider sind diese Befunde innerhalb der Psychologie – meinem Herkunftsfach –, aber sicherlich auch anderswo, noch lange nicht verinnerlicht. Sonst würde man nämlich nicht in der Methode einem banalen Positivismus der übelsten Sorte frönen, der wenn es hoch kommt, ein bisschen durch kritischen Rationalismus und Poppersche Positivismuskritik gemildert wird. Hier leistet der Konstruktivismus einen unschätzbaren Beitrag. Er weist uns nämlich auf diese unsere Voraussetzungen hin.
Die Kunst ist es, diese beiden Elemente des Realismus, der von der Wirklichkeit und Bedeutung einer von uns teilweise unabhängigen Welt ausgeht, und des Konstruktivismus, der die Unmöglichkeit eines unvermittelten, naiven Zugangs zur Welt betont, zusammenzubringen und gemeinsam aktiv zu halten, obwohl sie anscheinend widersprüchliche Zugänge zur Welt sind. Diese Situation, anscheinend sich ausschließende Sichtweise oder Perspektiven zu benötigen, scheint mir im übrigen kennzeichnend für uns Menschen und vielleicht für die Grundstruktur der Welt zu sein (5).
Subjekt der Wissenschaft ist die „scientific community“
3. Die dritte Voraussetzung die ich mache, betrifft das Subjekt der Wissenschaft. Das Objekt der Wissenschaft ist die Welt. Wer aber ist das Subjekt? Wer „wissenschaftet“? Ist es der Wissenschaftler, der eine Entdeckung macht, ein Experiment durchführt, einen wegweisenden Aufsatz publiziert? Ja und nein. Ja insofern, als die einzelne Person im Rahmen der Wissenschaft natürlich die Einheit der Handlung darstellt. Zwar sind vor allem in der Naturwissenschaft und überall, wo es um komplexe Zusammenarbeit geht, meistens große Arbeitsgruppen am Werk. Aber an erster Stelle einer Publikation kann immer nur einer stehen. Auch Nobelpreise werden in der Regel an Einzelpersonen, manchmal an zwei Individuen vergeben, die sich um eine Thematik besonders verdient gemacht haben.
Dennoch ist das Subjekt der Wissenschaft als solche nicht die Einzelperson. Das Subjekt der Wissenschaft ist das Kollektiv, die „scientific community“, wie es auf Neudeutsch so treffend heißt. Was ist damit gemeint? Wissenschaft ist ein sozialer Prozess. Und als solcher unterliegt er den Gesetzmässigkeiten und den chaotischen Prozessen, denen soziale Systeme im Allgemeinen und Wissenschaft im Besonderen unterworfen sind. Zwar sind Einzelpersonen, Individuen, gleichsam die Agenten und Knotenpunkte in diesem sozialen System. Aber sie können nur im Rahmen des Ganzen agieren. Sie müssen sich, auf jeden Fall in gewissem Masse und in Grenzen, an die Bedingungen anpassen, die vom Forscherkollektiv gesetzt sind (6).
Es gibt keine immerwährenden methodischen Regeln
4. Schließlich mache ich die Voraussetzung, dass es keine immerwährenden, unumstösslichen methodischen Regeln gibt. Ich bin fest, ja leidenschaftlich, der Meinung, dass eine Wissenschaftshaltung, die meint, es gäbe ein für allemal feststehende Grundsätze, wie „man“ Wissenschaft zu betreiben habe, der größte Feind echter und guter Wissenschaft ist. Denn
Wissenschaft hinterfragt kritisch – fortwährend
5. es ist das Wesen der Wissenschaft, vermeintliche Sicherheiten zu hinterfragen, anscheinende Gewissheiten zu entlarven, Dogmen umzustürzen. Wenn es eine Konstante durch die Zeiten gibt, dann ist es die der radikalen Kritik (7), die Wissenschaftsströmungen verschiedener Couleur und Autoren unterschiedlicher Stoßrichtung miteinander verbindet. Was heutzutage gerne übersehen wird ist die Tatsache, dass Wissenschaft nicht im voraussetzungsfreien Raum operiert. Sie macht sich die Voraussetzungen der jeweiligen Kultur zu eigen. Sie baut auf diese auf und setzt sie stillschweigend voraus. Wenn sie diese Voraussetzungen nicht mehr kritisch reflektiert, gerät Wissenschaft in die Gefahr zu erstarren.
Selbstverständlich kann man nicht immer von jedem einzelnen Wissenschaftler erwarten, dass er seine Voraussetzungen dauernd reflektiert und kritisiert. Aber von der Wissenschaft als Kollektivunternehmung müssen wir dies verlangen, und vom einzelnen Wissenschaftler müssen wir erwarten dürfen, dass er für diesen Aspekt seiner Profession sensibel ist und die wichtigsten Entwicklungen auf diesem Feld der Meta-Reflexion über Wissenschaft zur Kenntnis nimmt.
In diesem Sinne ist Wissenschaft immer schon Dogmenkritik gewesen, Kritik an verkarsteten Lehrmeinungen, an sklerotischen Modellen. Dies ist das Erbe der Aufklärung, mit dem sich die Wissenschaft zum Verbündeten der politisch-bürgerlichen Befreiungsbewegung von politischen und religiösen Fesseln gemacht hat. Paradoxerweise hat heute, mindestens bei manchen, die Wissenschaft eine Stellung eingenommen, wie sie früher die Religion hatte. Es gibt „heilige Kühe“, die nicht mehr hinterfragbar sind, ohne dass man mit Schwierigkeiten rechnen muss. Dies ist eigentlich gegen den ureigensten kritischen Geist der Wissenschaft. Wenn Wissenschaft dergestalt degeneriert ist, dann ist es nicht mehr Wissenschaft als eine Entdeckungsmethode, sondern dann ist Wissenschaft zur Weltanschauung, ja zum Religionsersatz geworden. Husserl und Heidegger haben diese Zerrform der Wissenschaft als Szientismus gebrandmarkt (8). „Echte“, also kritische und selbstkritische, Wissenschaft, hat in diesem Sinne sehr viel gemeinsam mit jenem ikonoklastischen Geist, der uns aus manchen Zenparabeln, Anekdoten oder Sprüchen mystischer Schriftsteller, oder einfach großartiger Geister entgegenweht.
Wissenschaftler sind auch nur Menschen …
6. Warum gibt es dann so viele offenbar relativ erfolgreiche Wissenschaftler, die diesen kritischen, selbstkritischen Geist anscheinend nicht verkörpern, sondern brav innerhalb des Geheges dessen operieren, was sie für die „richtige Wissenschaftlichkeit“ ansehen? Dies ist eine spannende Frage. Man kann sie wohlwollend beantworten und sagen: weil es eben auch solche geben muss, die die Arbeit tun, ohne viel zu fragen, sonst würde nämlich die Arbeit nicht verrichtet werden. Oder man kann ein bisschen miesepetriger und schopenhauerisch werden und sagen: weil manche Menschen eben nur ein gewisses Maß an Unsicherheit aushalten und weil unser Ausbildungs- und Selektionssystem dergestalt ist, dass es zu viele dieser Gestalten selektiert (9).
1. Realismus und Konstruktion
Das Objekt der Wissenschaft, sagte ich, ist die Welt. Was ist damit gemeint? Zum einen ist Welt offenbar alles, was uns umgibt. Die Natur im Großen und Kleinen. Aber auch unsere Kultur. Unsere geschichtlich-politische Situation. Damit sind bereits zwei anscheinend sich ausschließende Elemente angesprochen. Die Natur, die biologische Seite unserer Existenz, unsere Genetik, unsere evolutionsbiologische Geschichte, usw., also alles, was in der Vergangenheit dazu beigetragen hat, dass wir und unsere Welt heute so sein können.
Andererseits lässt sich dieses Gewordensein unserer Welt ohne die Kultur nicht verstehen. Kultur besteht offenkundig im aktiven Eingreifen des Menschen in die natürlichen Prozesse. Bereits Tiere schaffen im übrigen anfängliche Kultur, wie sich herausgestellt hat. Sie verändern ihre Umwelt durch ihr Nahrunssuchverhalten. Elefanten legen Friedhöfe an, Schimpansen und andere Primaten haben Stellen, an denen sie Werkzeuge zurichten. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass durch die Entwicklung des Menschen ein Wesen auf den Plan tritt, das diesen aktiven Veränderungsprozess noch weitertreibt.
Wir erfahren gerade heute, wie durch unser aktives Handeln sogar die natürlichen Voraussetzungen für unsere Existenz entscheidend verändert, ja bedroht werden. Insofern sind Natur und Kultur untrennbar miteinander verwoben. Die Kultur von uns Menschen ist dem Evolutionsprozess der Natur geschuldet und daher selber Natur. Wissenschaft ist der Selbstreflexionsprozess der Natur, die im Menschen Spiegel, Speer und Spaten zugleich erzeugt hat. Unsere Wissenschaft ist der kollektive, System und Gestalt gewordene Erkenntnisprozess, den die Natur durch die Evolution selber in Gang gesetzt hat. An dieser Stelle fühle ich mich meinem wissenschaftstheoretischen Lehrer Erhard Oeser verbunden, der diesen Gedanken für mein Gefühl unschlagbar klar formuliert hat (10).
Insofern hat der Realismus, den ich anspreche, eine Doppelgestalt. Auf der einen Seite gibt es „die Natur“ „da draußen“, unabhängig von uns. Sie hat uns, als Gattung, entstehen lassen, aufgrund der in ihr waltenden Gesetzmäßigkeiten. Wir selber sind bewusstgewordene Natur. Auf der anderen Seite ändern wir, die wir Kultur gewordene Natur sind, mit dieser von uns entwickelten Kultur die ursprüngliche Natur. Was wir also entdecken, ist „immer schon“ Natur in einer gewissen Hinsicht. Insofern ist also die vermeintliche Dichotomie „Realismus oder Konstruktivismus“ Unfug. Es gibt keine konstruktionsfreie Realität, und es gibt keine realitätsleere Konstruktion. Jede Konstruktion ist notwendigerweise aus natürlich-kultureller Realität kommend, und jede Realität ist nur als konstruierte gegeben (11). Wären wir Fledermäuse, würden wir Ultraschall hören. Wären wir Bienen, könnten wir ultraviolettes Licht sehen. Wären wir Hunde, hätten wir einen Geruchssinn von vielfacher Feinheit. Wären wir Elefanten, könnten wir uns manche Kommunikationsmittel sparen, weil wir mit Infraschall über massive Hindernisse hinweg kommunizieren könnten. Wären wir Haifische, könnten wir die elektrischen Felder unserer Mitmenschen orten. So aber haben wir genau den Rahmen der Sinnesmöglichkeiten, der uns biologisch gegeben ist. Er macht unsere Welt aus.
Nun hat der kollektive Prozess der Wissenschaft dazu geführt, dass wir unsere Sinne immens erweitern konnten. Wir können durch machtvolle Geräte hinaus in die Weite und hinein ins Kleine sehen. Wir können uns Modalitäten eröffnen, für die wir nicht wirklich Sinneskanäle haben. Unsere biochemischen und zellbiologischen Assays können uns Geschichten über Toxizitiät und molekularen Einfluss erzählen, die wir nie und nimmer ohne sie erfahren würden. Erst aufgrund unserer zellbiologischen Modelle wissen wir um die Giftigkeit von Quecksilber (12).
[Anmerkung der Redaktion: siehe zum Thema „Gesundheitsrisiko Quecksilber und Amalgam“ auch die aktuelle Übersichtsarbeit von Joachim Mutter et al. ? Publikation (PDF) ? Blog-Kommentar]
Wenn wir in unserer Umwelt damit konfrontiert werden, etwa wenn ein Quecksilberthermometer zerbricht, spüren wir weder, wie giftig es ist, noch schmecken wir etwas, noch bekommen wir unmittelbare Vergiftungssymptome, obwohl das Quecksilber eines Thermometers ausreicht, einen ganzen Raum mit Quecksilbermolekülen zu füllen und eigentlich auch ausreicht, einem Menschen eine potenziell tödliche Vergiftung beizubringen. Unsere natürlich gegebenen Sinne reichen nicht dazu aus, hier die Natur – das Quecksilber und seine Giftigkeit – richtig wahrzunehmen. Erst unsere kulturell erweiterte Wahrnehmungsmöglichkeit „konstruiert“ oder „reproduziert“ die Giftigkeit des Quecksilbers und lässt sie an den Tag treten.
Natur und Kultur, Realität und Konstruktion sind also aufs Innigste verwoben. Wir können nur dann die Realität „entdecken“, d.h. so wahrnehmen, dass wir ihren Wirklichkeitsanteil entblößen, wenn wir uns gleichzeitig der konstruktiven Aspekte unseres Tuns bewusst sind. Und letzteres können wir nur tun, indem wir uns immer wieder der Selbstreflexion unterziehen und selbst, individuell und kollektiv, die Voraussetzung unseres Handelns hinterfragen. Jacques Derrida hat einmal in einem Interview, in dem er nach dem Wesen der Dekonstruktion, also des Aufdeckens unbewusster Erkenntnisvoraussetzungen, gefragt wurde, sinngemäss folgendes gesagt (13): Ich schaue fern, und schaue mir beim Fernsehschauen zu.
Wissenschaft ist nicht einfach nur das Anwenden von Methoden zum Entdecken irgendwelcher natürlicher Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten. Es ist auch nicht einfach das Rekonstruieren narrativer Bezugsrahmen von Erfahrung. Es ist immer beides zugleich: das methodische Bezogensein auf eine außerhalb von uns gegebene Natur und die Reflexion auf die Voraussetzungen und Bedingungen dieses Bezogenseins, Natur und Kultur und die Reflexion auf ihre jeweilige, interdependente wechselseitige Verflochtenheit.
Fortsetzung folgt …
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In Teil 2 geht es um Wissenschaft als sozialer Prozess , in dem sich Regeln im Verlaufe der Zeit verändern und entwickeln.
Literatur:
(1) Ich bin Jochen Fahrenberg zu Dank verpflichtet, dass er mir die Möglichkeit gab, seine Wissenschaftstheorievorlesung für Psychologiestudenten zu übernehmen und so die Reflexion über Wissenschaft über einige Jahre hinweg zu meinem Nebenberuf zu machen. Ebenso bin ich den Freiburger Psychologiestudenten zu Dank verpflichtet, die mich durch Fragen und Rückmeldungen zwangen, so präzise wie möglich zu werden. Ob es mir am Ende gelungen ist, ist eine andere Frage. Das meiste, was ich über Wissenschaft direkt oder indirekt gelernt habe, habe ich von meinem wissenschaftstheoretischen Lehrer Erhard Oeser gelernt, dessen historische und systematische Schriften mir eine reiche und wertvolle Quelle waren. Meine Arbeit wird unterstützt vom Samueli Institute, Alexandria, VA.
(2) Walach, Harald: Psychologie: Wissenschaftstheorie, philosophische Grundlagen und Geschichte. Stuttgart, Kohlhammer 2005.
(3) Lyotard, J.-F.: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Graz, Böhlau 1986.
(4) Roth, G.: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen. Frankfurt, Suhrkamp 1997.
(5) Walach, Harald & Römer, Hartmann: “Complementarity is a useful concept for consciousness studies. A reminder”. Neuroendocrinology Letters 2000;21:221-232.
(6) Latour, Bruno: Die Hoffnung der Pandora: Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaften. Frankfurt, Suhrkamp 2000.
(7) Flasch, K.: Aufklärung im Mittelalter? Die Verurteilung von 1277. Das Dokument des Bischofs von Paris. Eingel., übers. und erkl. v. K. Flasch. Mainz, Dieterich 1989.
(8) Husserl, Edmund: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Philosophie. Hamburg, Meiner 1977.
(9) Fischer, Klaus: „Fehlfunktionen der Wissenschaft“. Erwägen, Wissen, Ethik 2007;18:1-16.
(10) Oeser, E. (1988). Das Abenteuer der kollektiven Vernunft. Evolution und Involution der Wissenschaft. Berlin, Hamburg: Parey.
(11) Slunecko, Thomas: Wissenschaftstheorie und Psychotherapie. Ein konstruktiv-realistischer Dialog. Wien, Wiener Universitätsverlag 1996; Wallner, F. G.: „Das Bewusstsein – eine abendländische Konstruktion“. In T. Slunecko, O. Vitouch, C. Korunka, H. Bauer & B. Flatschacher (Hrsg.), Psychologie des Bewusstseins – Bewusstsein der Psychologie. Giselher Guttmann zum 65. Geburtstag. Wien, Wiener Universitätsverlag 1999, pp. 201-218.
(12) Mutter, J., Naumann, J., Sadaghiani, C., Schneider, R., & Walach, H.: „Alzheimer disease: mercury as pathogenetic factor and apolipoprotein E as a modulator”. Neuroendocrinology Letters 2004;25:275-283; Mutter, J., Naumann, J., Walach, H., & Daschner, F.: „Amalgam: Eine Risikobewertung unter Berücksichtigung der neuen Literatur bis 2005“. Gesundheitswesen, 2005;67:204-216.
[Nachtrag der Redaktion: Mutter, J., Curth, A., Naumann, J., Deth, R., & Walach, H. (2010). Does inorganic mercury play a role in Alzheimer s disease? A systematic review and an integrated molecular mechanism. Journal of Alzheimer s Disease, 22, 357-374.]
(13) Benedikter, Roland: Postmodern spirituality: how to find a rational alternative to the global turn to religion; educational dimensions, developments and perspectives. Promotionsschrift, Universität Innsbruck, Innsbruck 2006.
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Über Prof. Dr. Dr. phil. Harald Walach
Der klinische Psychologe, Philosoph und Wissenschaftshistoriker Harald Walach ist Professor für Forschungsmethodik komplementärer Medizin und Heilkunde an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder). Walach ist Chefredakteur des renommierten Journals Forschende Komplementärmedizin und gilt in Fachkreisen als Forscherpersönlichkeit mit einem exzellenten internationalen Ruf. Er wird in der amerikanischen Zeitschrift „Explore“ (Vol. 3, No. 3, 2007), von ihrem Executive Editor, Larry Dossey, als „einer der herausragendsten europäischen Forscher auf dem Gebiet der Komplementär- und Alternativmedizin“ bezeichnet. Sein internationales Ansehen auf dem Gebiet der CAM-Forschung zeigt sich u.a. darin, dass er Gründungsmitglied und Past-Präsident der „International Society for Complementary Medicine Research“ ist – einer internationalen Fachgesellschaft, in der mehr als 250 aktive Forscher zusammengeschlossen sind.
? Curriculum Vitae (PDF) ? Publikationen (PDF)
? Weblog: INTRAG.info/aktuell …
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Themen: DZVhÄ Homöopathie.Blog | 6 Kommentare »
31st.März 2011 um 08:13
Definition: „Wissenschaft ist ein kollektiver Versuch, die Welt in der wir leben, besser zu verstehen, Einsichten darüber zu erlangen und sich dabei nach Möglichkeit durch methodische Sicherungen vor Irrtum zu schützen.“
Solche Definitionen sollten am konkreten Beispiel diskutiert werden. Als Homöopathen stehen wir vor den Herausforderungen der angeblichen Weiterentwicklung der Homöopathie durch Scholten und Sankaran. Lässt sich die Homöopathie durch diese Methoden besser verstehen, wo sind die Methoden um uns vor Irrtum zu schützen?
Hahnemann hat als Voraussetzung für eine wissenschaftliche Medizin die Arzneimittelprüfung verlangt und erforscht. Erst damit hat er das Simileprinzip als theoretisches Konzept der Heilungsvorgänge geschlussfolgert und ausgebaut. Zuletzt kam die Beobachtung des Erkrankten als Bestätigung oder Indikator der Richtigkeit seiner Theorie.
Neuerdings postuliert Herr Scholten die Möglichkeit allein aus der Stellung im Periodensystem auf die homöopathische Mittelwirkung schließen zu können, also Hahnemanns Arzneimittelprüfung durch eine Systembildung neuer Art zu ersetzen.
Wenn ich mir die „Elemententheorie“ ansehe, komme ich jedoch zu dem Schluss, dass die angebliche Weiterentwicklung des Scholtensystems lediglich eine Regression auf die Stufe der vorwissenschaftlichen Horoskoptheorien der Natur und des Menschen darstellt. Vorwissenschaftlich sind Horoskope deshalb, weil sie den Grundsatz der Redundanz (Weitschweifigkeit) bis in den Exzess treiben. Damit schaffen diese Modelle Aussagen, bei denen jede unverbindliche Horoskopaussage auf eine überwiegende Mehrheit von Personen zutreffen muss. Damit ist bei den Betroffenen dann der sogenannte AHA-Effekt verbunden (AHA- der Behandler hat mein Problem erkannt, jetzt werde ich gesund). Sie fühlen sich verstanden. Das allein kann bereits heilendende Wirkung haben. Homöopathie sollte jedoch mit Wissenschaft verbunden bleiben. Solange das Homöopathiehoroskop nicht auf die Arzneimittelprüfung als Grundlage zurückgeführt werden kann, erfüllt sie nicht den Anspruch der Wissenschaftlichkeit.
Ähnliche Probleme habe ich mit Herrn Sankaran. Es ist gut, wenn er versucht mit Hilfe von psychischen Eigenschaften bestimmte Mittel für die Patienten herauszufinden. Wenn die Psyche des Patienten das einzige Instrument bleibt, um das angeblich richtige homöopathische Mittel für den Patienten zu finden und darüber hinaus die psychischen Eigenschaften deduktiv aus den geprüften Mitteln gefunden werden soll, habe ich meine Zweifel, dass dieses Prinzip noch mit der von Hahnemann geforderten Arzneimittelprüfung zu vereinbaren ist. Heilend kann daran allerdings auch sein, dass die intensive Beschäftigung mit dem Patienten dessen unbewusste Probleme hervorbringt und damit ein Stück Problembearbeitung erfolgt. Das war bisher jedoch Aufgabe der Psychoanalyse und nicht der Homöopathie.
Ich denke dass die Diskussion über Wissenschaftlichkeit dringend erforderlich ist. Nur sollte sie nicht abstrakt geführt werden, sondern konkret an den in den letzten Jahren erkennbar auftretenden Problemen. Die Abwendung von der Arzneimittelprüfung nach Hahnemann bertachte ich als Weg in die Unwissenschaftlichkeit.
Die Homöopathie dürfte nicht durch Kritiker gefährdet sein, sondern durch die angeblichen Weiterentwicklungen der Homöopathie in Richtung Horoskophomöopathie und Psychoanalysehomöopathie.
22nd.April 2011 um 07:44
Lieber Herr Brunke,
Ihre Skepsis ist für mich zum Teil nachvollziehbar. Als Antwort auf Ihre Fragen und Kritik an den Methoden von Scholten und Sankaran möchte ich Ihnen gerne die Lektüre eines Artikel von Andreas Holling empfehlen:
http://www.syshom.on-rev.com/ourcases/downloads/ahz-artikel-von-aholling.pdf
23rd.April 2011 um 08:19
Ich fasse die entnommenen Thesen von Andreas Holling zusammen:
„Wenn dann durch die Interpolation Vorhersagen zu Arzneimitteln/Elementen, welche noch keine Prüfung erfahren haben, gemacht werden, – und dann noch durch erfolgreiche
Mittelverschreibungen nachweisbar wird, dass diese Interpolationen tragfähig sind, dann ist das keine Abkehr von der AMP, sondern eine höchst intelligente Verwertung dieser
empirischen Basis. Das ist direkt mit Bönninghausens Vorgehen bei der Untersuchung der
Gemeinsamkeiten einzelner Prüfungssymptome vergleichbar.
Eine wirklich relevante Diskussion sollte in einer Kritik an der empirischen Basis der
neuen Erkenntnisse ansetzen. Man sollte Fälle, die mit bestimmten Methoden gelöst wurden, auf ihre Qualität prüfen. Es sollten die Ergebnisse betrachtet werden, wenn man die
Methode als ganzes in Frage stellen möchte. Sie einfach per Definition als „unhomöopathisch“ zu bezeichnen, ist eine unproduktive Beschneidung einer über zwei Jahrhunderte gewachsenen Wissenschaft. Es gibt doch schon immer verschiedene methodische Richtungen in der Homöopathie (Kent´sche Richtung, Bönninghausen-
Methode, Boger-Methode) und das hat der Homöopathie doch nicht geschadet.
Solange alle an der Diskussion Beteiligten die Grundsäulen der Homöopathie,
– Arzneimittelprüfung
– Einzelmittelgaben
– rational nachvollziehbare und reproduzierbare
Kriterien der Mittelfindung auf Grund einer Ähnlichkeit zwischen dem Charakters der Arzneisymptome und dem Charakter der Patientensymptome sowie
– die empirisch klinische Überprüfung
nicht verlassen, gibt es einen gemeinsamen Boden.“
Herr Holling hat zum Ausdruck gebracht, dass die relevante Diskussion anhand der empirischen Basis geführt werden sollte. Die mit den neuen Methoden gelösten Fälle sollten demnach auf ihre Qualität geprüft werden.“
Herr Holing beruft sich auf § 144 Organon: „Von einer solchen Arzneimittellehre sei alles Vermuthete, bloß behauptete, oder gar Erdichtete gänzlich ausgeschlossen; es sei alles reine Sprache der sorgfältig und redlich befragten Natur.“
Zu Jan Scholten:
– arbeitet in besonderer Weise mit der sogenannten „Gruppenanalyse“. Diese Gruppen werden nach Stoffen (Natrium, Calcium, Barium, etc.) als auch auch nach Verbindungen / Struktureigenschaften (muriaticum, sulfuricum, carbonicum, Halogene, Edelgase, 1. Serie im Periodensystem, 2. Serie im Periodensystem, Compositae im Pflanzenreich, etc. ) unterschieden. Hierbei werden essentielle Kennzeichen aus einer Gruppe von Mitteln herausgezogen, zum Beispiel der Natriumgruppe. Kennzeichen dieser Gruppe wären z.B. „kein“, „allein“, „verboten“, etc. Zur muriaticum-Gruppe passen „Mutter“, „Versorgung“, „traurig“, etc. Diese Eigenschaften werden nun miteinander kombiniert und ergeben damit neue Qualitäten wie „Keine Mutter“ oder „Es ist verboten, sich umsorgen zu lassen.“.
Scholten ist mit dieser Methode in der Lage, Rückschlüsse (oft natürlich auch stark hypothetischer Natur) auf sehr kleine, unbekannte oder wenig erforschte Mittel zu ziehen und damit die Forschung gerade in diesem Bereich zu initieren. Nicht umsonst ist sein brillantes Werk zum Periodensystem der Elemente als auch zu den Mineralien in der Homöopathie erschienen. Zur Zeit arbeitet er an einer Klassifizierung der verschiedenen botanischen Pflanzenfamilien nach ihren Eigenschaften für die homöopathische Diagnose Verschreibung. Er gibt in der Regel standardmäßig nur die C1000 als Potenz.
Leitspruch: „Machts nach, aber macht´s nicht genau nach.“ http://www.bunkahle.com/Homoeopathie/Homschulen.htm#Scholten
Weitere Hinweise finden sich zur reinen Horoskophomöopathie nach Bunkhale u. a.
Die Vorgehensweise des Herrn Scholten wäre vermutlich nach § 144 Organon von Hahnemann verworfen worden, insofern sie lediglich auf Vermutungen und Erdichtungen beruht.
Soweit Herr Holling die Qualität der Heilerfolge für die Zulässigkeit der Scholtensschen Verallgemeinerungen heranziehen will, fehlt diesem Ansatz ebenfalls jede Basis. Weder Herr Scholten, noch Herr Sankaran haben sich die Mühe gemacht ihre Heilerfolge mit den von ihnen und ohne die von ihnen entwickelten Methoden darzulegen. Allein die Behauptung, dass mit diesen Methoden mehr Erfolge zu erzielen seien, dürfte nach meiner Erfahrung darauf zurück zu führen sein, dass ihre zuvor erzielten Erfolge nicht ausreichend waren.
Meine persönlichen Erfahrungen zeigen, dass ich mit der Hahnemannschen Methode streng nach den Prüfungssymptomen die ganz überwiegenden Mehrzahl der Patienten gebessert und geheilt werden.
Die hier kritisierten Methoden beruhen angeblich auf der Patientenerfahrung, statt auf der Arzneimittelprüfung.
Wie kann die Patientenerfahrung objektiviert werden?
Durch führen einer Statistik. Diese Statistik liefert keiner der kritisierten Homöopathen.
Wenn soweit Übereinstimmung bestehen sollte, ergibt sich die Frage welche Anforderungen an die Statistik gestellt werden müssen.
Ich würde erwarten, dass die Vertreter der neuen Methoden wenigstens aus ihrem Patientenkreis eine Statistik führen, aus der die Krankheit des Patienten, die drei Hauptbeschwerden, drei Nebenbeschwerden, die verordnete Mittel, die Dauer der Behandlung und das Ergebnis der homöopathischen Behandlung beschrieben wird.
Weiter zur Elemententheorie:
Wie kommt Herr Scholten dazu zu behaupten, dass die Mittel in 18 Stadien eingeteilt werden können, die den aufgeführten Symptomen entsprechen würden. Wo sind die persönlichen Erfahrungen und die daraus resultierende Statistik, die solche Annahmen belegen? Warum nimmt er nicht die Sternkreiszeichen, statt die Elemente des Periodensystems? Vielleicht hat er das astrologische System von Bunkahle abgewandelt auf das Periodensystem übertragen?
Wenn er dem Vorbild Hahnemann gefolgt wäre, hätte er eine Arzneimittellehre aufstellen müssen, in der nachvollziehbar aufgezeigt wird, welches Symptom bei welchem Patienten den Schluss nahe legt, dass er sich in Stadium xx z. B. 18 der Eisenserie befindet usw.
Eine solche Elementen-Materia-Medica ist mir von ihm nicht bekannt. Er dürfte wohl den umgekehrten Weg gegangen sein und eine Theorie aufgestellt haben, die er im Nachhinein versucht mit Thesen zu füttern, damit sie glaubhaft werden soll.
Horoskope sind auch jeden Tag in der Zeitung zu finden. Sie dienen einfältigen Hausfrauen dazu erbauliches über ihre Zukunft zu erfahren.
Einen wissenchaftlichen Wert oder eine Grundlage für eine bessere Gesundheit kann ich darin nicht erkennen, auch nicht wenn sie für 90% aller Leser zutreffen.
Wenn einige Homöopathen meinen mittels Pendeln das heilsame homöopathische Mittel herauszufinden, würde ich als erstes eine Pendel-Materia-Medica erwarten, in der die erhobenen Symptome des Patienten und das (ausschließlich) mit dem Pendel herausgefundene homöopathische Mittel beschrieben wird, sowie die Statistik, die belegt, welches Behandlungsergebnis resultierte.
Allein das Gefühl zu haben, ich entwickel die Homöopathie weiter, reicht nicht aus, um einen Wissenschaftlichkeitsanspruch zu begründen. Die Thesen müssen auch noch nachvollziehbar sein.
Ich habe zu Beginn meiner homöopathischen Laufbahn alle möglichen Ansätze der homöopathischen Mittelfindung 1985 überprüft. Dazu gehörte auch die Pendeltheorie. Sie wurde von mir als untauglich für die homöopathische Mittelfindung erkannt und verworfen.
Ich bezweifle auch, dass die von Hahnemann in einem einmaligen Kraftakt aufgebrachte Arbeit bei der Entwicklung der Homöopathie von einem einzelnen Homöopathen heutzutage aufgebracht werden könnte.
Wenn der Wunsch zur Weiterentwicklung der Homöopathie besteht, sollte dieses Forum genutzt werden, um sich über die Grundsätze einer Weiterentwicklung der Homöopathie vorab zu verständigen, bevor jeder einzelne für sich ein System entwickelt, welches nicht einmal den Nachvollziehbarkeitsanforderungen entspricht und Wissenschaftlichkeitsanforderungen gänzlich vermissen lässt.
Dazu dürften auch Arzneimittelprüfungen durch stärker wirksame homöopathische Mittel gehören, und Tierversuche, wie sie für jeden Pharmakologen selbstverständlich sind.
Auch ist die Diskussion bisher unterblieben, was überhaupt als Gesundheit und Krankheit in der Homöopathie verstanden werden soll.
Folgen wir dem Beispiel der Schulmedizin, müsste eine zeitweilige Unterdrückung von Symptomen bereits als Heilerfolg gefeiert werden.
Das Beispiel des Diabetes mellitus II zeigt, dass die Schulmedizin für sich in Anspruch nimmt die Krankheit zu heilen, indem sie Insulin verordnet.
Als Homöopath habe ich den Anspruch die Erkrankung schnell und dauerhaft zu heilen, ohne dass der Patient weiter Insulin spritzen muss oder sonstige Medikamente benötigt.
Das ist eine der Erkrankungen, bei der die Homöopathie ihre Überlegenheit über die Schulmedizin nachweisen kann. Nur ist dieser Nachweis bisher nirgendwo mit der erforderlichen statistischen Signifikanz publiziert worden.
Meine Anforderungen an wissenschaftliche Homöopathie:
– Prüfung der Mittel nach Hahnemann
– 2. Prüfungstufe mit verstärkten homöopathischen Mitteln
– Tierversuche mit verstärkt wirksamen Mitteln
– Definition der Heilung von Krankheiten als Grundlage für Statistiken
– und Definition dessen, was als Krankheit verstanden werden soll
– Erhebung der Ergebnisse durch Statistiken
– Begründungsnotwendigkeit für angebliche Weiterentwicklung in der Homöopathie und Nachvollziehbarkeit des Ansatzes
– Erforschung des Wirkungsmechanismus der Homöopathie auf zellulärer Ebene
– Vereinfachung des Homöopathiegebäudes bis es für jedermann in angemessener Zeit erlernbar ist, statt es mit neuen ungeprüften Theorien zu überfrachten, deren Tragfähigkeit zweifelhaft ist
Herr Hollings Argumentation, wenn Herr Bönninghausen bereits verallgemeinert hat, können wir das heute besser, hilft bei der notwendigen Neuorientierung der Homöopathie nicht weiter und rechtfertig nicht die Arzneimittelprüfung durch Horoskopsysteme ungeprüfter Art nach Scholten u.a. zu ersetzen. Die Diskussion über die Anforderung von Wissenschaftlichkeit ist bisher nicht geführt worden. Die Ansätze nach Scholten u. a. sehe ich dabei als Rückschritt in die falsche Richtung.
24th.April 2011 um 15:04
Sehr geehrter Herr Brunke,
Hahnemann hat die Homöopathie nicht erfunden, wie er selbst sagt. Es gab vor ihm bereits viele Erfahrungen mit der therapeutischen Anwendung des Simile-Prinzips, angefangen mit dem Alten Testament, Was er seinem Zeitalter folgend entwickelte, war eine positivistische, auf dem Experiment basierende Erforschung der Wirksamkeit von Substanzen am gesunden Menschen. Der „Zufall“ hatte bei ihm die Vermutung aufkommen lassen, dass eine Substanz, die in gewisser Weise krank macht, einem ähnlich Erkrankten als Heilmittel helfen könnte. Die Erfahrung zeigte ihm, des dem so war. Er hat diese Erfahrung als gesetzmässig erkannt und darauf den Inhalt seines §3 des Organon aufgebaut. Mehr hat er nicht getan, aber auch nicht weniger. Er hat dann noch aus seiner Erfahrung festgestellt, dass bei der Erforschung des Bildes der Krankheit dem Geist-Gemütszustand (GGZ) ein besonderes Augenmerk zu widmen sei, da sich nur in der Veränderung dieses GGZ die Spezifität der Wirkung einer Substanz differenzieren lässt, was er in den §§ 210 – 217 insbesonders auseinandersetzt. Auf dieser Einsicht baut die von Sehgal angewandte Technik der Fallerhebung auf, die dieser nur durch „Zufall“ in der Praxis entdeckte.
Bereits vor Jan Scholten, Sankaran usw. haben sich Homöopathen mit der naturwissenschaftlich bekannten Systematik der Naturreiche auseinander gesetzt, als da sind Grauvogl und Leeser. Sie fanden unabhängig voneinander, dass sowohl bei den mineralischen Substanzen als auch bei den pflanzlichen und tierischen Familien sich gewisse Charakteristika in der Symptomatik im Zusammnehang mit ihrer Familien- und Gruppenzugehörigkeit zeigten. Diese „Verwandtschaft“, die sich doch auch in den „Wahlverwandtschaften“ (Goeteh) der chemischen Elemente wiederspiegelt, findet ihren Niederschlag in der Systematik des periodischen Sytems, auch einer Ordung, deren Entdeckung wir wissenschaftlichem Denken verdanken.
Überhaupt ist „Wissenschaft“ die Anwendung unseres Denkens auf die unseren Sinnen zugänglichen Welt. Was jedes Kind lernen muss, das „Denken am Tun und das Tun am Denken“ (Goethe) zu messen, ist Wissenschaft im eigentlichen Sinn. Was die Erkenntnistheoretiker und Philosophen dann aus diesen eigentlich einfachen Verhältnissen machen, dient oft eher der Verwirrung als der Klärung der Welt. Weshalb auch Hahnemannn und ihm ähnlich Goethe seine Vorbehalte gegen den Dogmenstifter Kant zum Ausdruck brachten. Dieser hat uns nämlich Erkenntnisgrenzen beweisen wollen, jenseits derer wir „Platz für den Glauben“ behalten sollten. Sein „Aude sapere“ scheute vor diesen seinen Erkenntnisgrenzen der belebten Natur zurück.Hahnemann wusste wenigstens, dass er es mit geistartigen Wirkungen zu tun hat, aber auch er glaubte, dass man „zum Ding an sich“ keinen Zugang hätte, im Gegensatz zu Goethe, der von sich sagte, dass er das von Kant als „Abenteurer der Vernunft“ bezeichnete Verfahren für sich bestanden hätte. Es ging hier um die Frage, ob der Mensch einen „synthetischen Verstand, eine gleichsam göttliche Vernunft“ haben könne im Gegensatz zum diskursiven Verstand des „normalen“ Menschen.
Wir müssen gar nicht dogmatisch alles ausschliessen, was Hahnemann noch nicht erkannt hat. Wir können, wie alle Wissenschaften, auf dem aufbauen, was unsere Vorfahren schon erkannt haben, Aber wir dürfen auch selber noch etwas dazu denken, wie es auch unsere Vorfahren immer getan haben.
Gerhardus Lang
5th.Mai 2011 um 08:48
Aufruf zur Erstellung einer wissenschaftlichen Statistik der verwendeten homöopathischen Mittel (bewährte Indikationen mit Häufigkeit)
Liebe Kollegen,
die Diskussion über Wissenschaftlichkeit führt auf der bisherigen Basis offensichtlich nicht weiter, wie in diesem thread erkennbar wird.
Ich rufe deshalb alle an wissenschaftlicher Homöopathie interessierten ärztlichen Kolleginnen und Kollegen auf, einen Beitrag zu leisten, die Homöopathie auf eine einfachere, nachvollziehbare und damit wissenschaftlichere Grundlage zu stellen.
Mein Vorschlag zur Erreichung dieses Zieles wäre vorerst die Erstellung einer Statistik. Dort müsste erfasst werden, welcher Patient in welchem Alter mit welcher schulmedizinischen Diagnose, den drei Hauptsymptomen und den drei Nebensymptomen (Modalitäten) mit welchem Mittel eine Besserung seiner Beschwerden von mehr als 50% innerhalb welcher Zeit erreicht hat.
Das soll zur Aufstellung einer Materia medica der häufigsten Mittel bei der Krankenbehandlung dienen und zur Vereinfachung der Mittelfindung bieten.
Die Behandlungserfolge sollten nicht durch esoterische Geistesakrobatik verbessert werden, sondern durch Erfahrungswerte. Bessere Erfahrungswerte heißt, dass die Kollegen mit guten Behandlungserfolgen die Mittel und ihre Symptomatik, bei denen ein Durchbruch im Sinne einer Verbesserung der bestehenden Beschwerdesymptomatik von mehr als 50 % innerhalb vertretbarer Zeit dokumentiert und den anderen Kollegen mitteilt.
Mein Vorschlag für die Erfassung wäre:
Abkürzung Patient Mittel Diagnose, drei Hauptbeschwerden,
Modalitäten, Heilungsreaktion des Patienten? Alter des Patienten Behandlungsdauer
Die Auswertung soll Aufschluss über die wichtigsten Mittel bei der Behandlung ergeben und könnte mit den Repertorien abgeglichen werden. Die Ergebnisse könnten in Tabellenform als Excelltabelle an meine Adresse durchgegeben werden: brunke@freenet.de Für kurze Vorabmitteilung wäre ich dankbar. Dann könnte beurteilt werden, ob sich genügend Ärzte für das Anliegen finden.
Ich werde mich bemühen die (anonymisierten) Daten so zu verarbeiten, dass alle darauf Zugriff haben.
Zum Thema geistartige Mittelwirkung:
Noch ein kurzes Wort zur angesprochenen „geistartigen“ Mittelwirkung durch Hahnemann. Das heißt für ihn gerade nicht der Rückgriff auf esoterische Denkmodelle und das Erfinden von erdachten Systemen (Periodensystem, Pendeln), welche nicht durch die Erfahrung von der Natur abgeschaut ist. Mit geistartiger Mittelwirkung bringt Hahnemann das Wirken der homöopathischen Mittel zum Ausdruck, welches allein durch die Berührung der lebenden Tierfaser auf den ganzen Organismus dynamisch einwirkt, ohne ihm jedoch irgend eine, auch noch so fein gedachte Materie mitzuteilen (Anmerkung 1 zu § 11 Org.). Das ist das genaue Gegenteil vom esoterischen Ansatz, der behauptet, dass ein erdachtes System der Homöopathie geistartig wirke, durch geistige Einflussnahme oder Übertragung oder neuerdings durch den behaupteten Placeboeffekt.
Hahnemann kannte Mesmer und seine Behandlungsweise. Die von ihm entwickelte Homöopathie hat mit Handauflegen und Geistheilung nichts gemeinsam. Wer Geistheilung betreiben will, sollte dem System F. A. Mesmers eine wissenschaftliche Grundlage hinzufügen und kann das dann gerne vorstellen. Scholtens Periodensystem und Homöopathen, die durch Pendeln Mittel bestimmen, haben mit Mesmer nichts gemeinsam, da dort einfach die Erfahrungen des Herrn Mesmer bei der Heilung durch den Geist nicht berücksichtigt wurden. Auch hat Herr Mesmer nicht behauptet, dass er durch ein erdachtes System oder Pendel homöopathische Mittel findet, mit denen er heilen könnte, sondern allein durch geistige Beeinflussung.
Seine zentrale These lautet, dass die Krise die Krankheit heilt (Magnetismus, F. A. Mesmer, Verlag Askläpieion, Nachdruck 1812, S. 36):
1. Perturbazion, die den Kampf der Naturkraft gegen den Widerstand vorstellt;
2. In der Koction, welche die Auflösung oder Bereitung des stockendes Safts zur Absonderung: und
3. In der Evakuation, so die Ausleerung des verdorbenen Safts vom gesunden bewirkt.
Hahnemann nimmt in den § 288 ff. Org. auf Mesmer und seine Heilweise Bezug. Im Gegensatz zu Mesmer redet er von der instinktartigen Lebenskraft, welche bei chronischen Krankheiten ein Lokalübel erzeugt, die mit der richtigen homöopathischen Arznei vom inneren Miasma her zu heilen sei (§ 205 Org.).
Für Hahnemann ist die Erzeugung einer Heilkrise wie bei Mesmer nicht Gegenstand seiner Lehre.
„Er (der Erzieher der Menschheit) erlaubt nicht, uns der sogenannten Krisen, wie die Natur zur Heilung einer Menge von Fiebern zu bedienen; wir sollten ihre kritischen Schweiße, ihren kritischen Harn, ihre kritischen Durchfälle, ihre kritischen Abzesse der Ohr und Leistendrüsen, ihr kritisches Nasenbluten nicht nachmachen können – aber er gibt dem Forscher Hilfsmittel in den Sinn, die Fieber eher zu heilen, als der Körperorganismus Krisen zu veranstalten im Stande ist, und sie gewisser, leichter und mit weniger Schmerzen, mit geringerer Gefahr des Lebens und mit weniger Nachwehen zu heilen, als die bloße Naturkraft durch Krisen vermag“ (Hahnemann S. „Heilkunde der Erfahrung“ S. 11). Er spricht sich gegen das Nachahmen der Heilkrise im Sinne von Mesmer aus und meint, die Homöopathie könne besser heilen.
Meine Erfahrungen bei der Behandlung von Krebs zeigen jedoch, dass die Erzeugung eines Lokalübels wie eine Fistel (entgegen Hahnemann) oder die Erzeugung der Heilkrise mit Fieber nach Mesmer notwendig ist, um die Krankheit zu heilen. Insofern stimme ich Hahnemann in seinen Ausführungen nicht zu, indem er meint, schwere Krankheiten könnten ohne Krise und ohne hervorgerufene Lokalübel geheilt werden.
8th.Dezember 2013 um 11:10
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