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Keine Medizin ohne Placebo-Effekt

Von Bjoern Bendig | 29.Mai 2013

Die Placebo-Forschung entwickelt sich in den letzten Jahren zu einem der interessantesten Bereiche der Medizin und Psychologie, mit dynamischen Fortschritten. Während der Begriff Placebo-Effekt auch heute noch als Synonym für „Wirkungslosigkeit“ oder „nur eingebildeter Nutzen“ aufgefasst wird, zeigen jüngere Erkenntnisse, dass die Sache ganz anders liegt: Der Placebo-Effekt löst „echte“ physiologische Prozesse im Körper aus, die eine Heilung des Patienten bewirken kann. – Nachhaltig.

„Es gibt den Placebo-Effekt, das muss man in aller Deutlichkeit sagen, bei jeder medizinischen Behandlung“, erklärt Professor Robert Jütte, Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer und Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung. Der Beirat der Ärztekammer erarbeitet Stellungnahmen und Empfehlungen zu verschiedenen Themen unter Berücksichtigung von ethischen Aspekten. Jütte ist dort Federführender des Arbeitskreises „Placebo in der Medizin“.

Vergleich zweier Behandlungsformen mit unterschiedlicher Placebo-Reaktion

Eine Behandlung mit einem geringen Verumeffekt kann eine höhere Besserungsrate (Balken links) erzielen als eine Behandlung mit hohem Verumeffekt. Placeboreaktionen der Patienten spielen eine zentrale Rolle. Quelle: Bundesärztekammer

Formen der Scheinbehandlung

Zu den Placebos gehören nicht nur Scheinmedikamente, sondern ebenso Scheininjektionen, Scheinoperationen oder Scheinakkupunktur – selbst in der Psychotherapie gibt es Formen der Scheinbehandlung, die den Placebo-Effekt nutzen.

Was können Placebos?

Die Wirksamkeit von Placebos ist bei Schmerzen am besten durch Studien dokumentiert. „Placebos können eine Schmerzlinderung von 80 Prozent erzielen“, berichtet Jütte, „sie helfen auch bei Magenschmerzen oder Bluthochdruck – es gibt da eine große Bandbreite an Anwendungsmöglichkeiten.“ Zum Teil können die Wirkungen von Placebos mithilfe von Laborwerten objektiv gemessen und nachgewiesen werden.

Schlagzeilen machte eine Studie des amerikanischen Chirurgen Bruce Moseley über Scheinoperationen bei Knie-Athrose. Moseley wollte wissen, ob nicht ein Teil des Behandlungserfolgs von Athroskopien auf dem Placeboeffekt beruht. Die Hälfte seiner Patienten bekam daher nur einen Schnitt ins Knie und eine dicke Naht, jedoch keine Athroskopie. Die Schein-Operierten konnten den Eingriff auf einem Monitor verfolgen und sahen eine echte Operation, die gar nicht ihre eigene war. Das Ergebnis: Die Patienten mit Scheinoperation waren nach der Heilungsphase genauso zufrieden, wie die Gruppe mit echten Operationen – auch noch bei der Befragung nach zwei Jahren.

Scheinbehandlungen können in einigen Fällen sogar bessere Ergebnisse erzielen als die konventionelle Behandlung. So ist die Scheinakupunktur bei Rückenschmerzen konventionellen Tabletten oder Spritzen weit überlegen. Das belegen die GERAC-Studien (German Acupuncture Trials), die bisher umfangreichsten klinischen Untersuchungen zu tiefen Rückenschmerzen. Das Ergebnis: Bei 47,6 Prozent der Akupunktur-Patienten, 44,2 Prozent der Scheinakupunktur-Patienten und nur 27,4 Prozent der konventionell behandelten Patienten trat eine erkennbare Verbesserung ein.

Placebowirkung bei konventionellen Medikamenten

Wenn ein Patient ein konventionelles Arzneimittel einnimmt, setzt sich die Wirkung aus dem „Verumeffekt“ des jeweiligen Wirkstoffs und der „Placeboreaktion“ des Patienten zusammen. Immer. Die Bedeutung der Placeboreaktion wird von Medizinern bis heute unterschätzt. Laut Jütte belegen Studien, dass der Anteil einer Placebowirkung bei einem konventionellen Medikament bei null bis 100 Prozent liegen kann. Kurios dabei: „Es kommt auch auf den kulturellen Kontext an. – Das ist beim gleichen Medikament in Brasilien anders als in Deutschland“, so Jütte.

Nebenwirkungen: Placebo- und Nocebo-Effekt

Placebo-Effekte bei konventionellen Medikamenten können Nebenwirkungen haben. „Ich kann die Nebenwirkungen einer richtigen Arznei verstärken. Das ist praktisch das Gegenteil vom Placebo-Effekt, der etwas Positives bewirkt. Man nennt das den Nocebo-Effekt“, erläutert Jütte, „dieser negative Placebo-Effekt führt dazu, dass unerwünschte Wirkungen verstärkt werden, oder die Wirksamkeit eines Wirkstoffs stark abgesenkt werden kann.“ Studiert ein Patient aufmerksam den Beipackzettel mit Nebenwirkungen, so hat er eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass bei ihm Beschwerden auftreten. Auch Medienberichte über Gesundheitsrisiken können laut dem Ärzteblatt starke Nocebo-Effekte auslösen

Werbung verstärkt die Wirkung eines Medikaments durch eine höhere Placeboreaktion der Patienten. Zwar gibt es erst wenige Studien zum Thema, doch diese belegen einen Zusammenhang zwischen Werbung und Wirkung. „Die Vorstellung des Patienten, dass ein Medikament wirke, hat einen Einfluss auf die Wirksamkeit. Da spielt auch die Werbung eine Rolle. Genau wie die Größe oder Farbe eines Placebos seine Wirksamkeit verstärken können.“ Selbst die Nachbarin unterstützt einen Placebo-Effekt, wenn sie eine Tablette empfiehlt und sagt: „Nimm das mal, das wirkt hervorragend.“

Ethik: Darf man Patienten mit Placebos täuschen?

„Die Bundesärztekammer hat entsprechende Empfehlungen vorgestellt, die genau sagen, dass der Patient aufgeklärt werden muss. Aber die Frage ist, wie tief er aufgeklärt werden muss. Und wenn ich einem Patienten sage, wir haben da eine Therapie, die unspezifisch wirkt. Und wir wissen noch nicht warum. – Dann will ich den Patienten sehen, der Nein sagt“, erklärt Jütte die ethischen Standards. Darüber hinaus zeichnet sich in der Placebo-Forschung ab, dass die Täuschung des Patienten kein zwingender Bestandteil einer erfolgreichen Scheinbehandlung ist. „Inzwischen gibt es einige Studien dazu – aber wir haben noch zu wenig davon“, sagt Jütte. „Die vorliegenden Studien zeigen: Selbst wenn ich dem Patienten sage, dass er ein Placebo bekommt, und ihm das genau erkläre. Das Placebo wirkt trotzdem.“

Ãœber:

Der Autor dieses Blogbeitrags ist Medizinjournalist und Redakteur beim Deutschen Zentralverein homöopathischer Ärzte (DZVhÄ)

Links zum Thema:

Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer „Placebo in der Medizin“ (Kurzfassung) [PDF]

Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer „Placebo in der Medizin“ (Langfassung) [PDF]

A Controlled Trial of Arthroscopic Surgery for Osteoarthritis of the Knee

Ärzteblatt: Medien mit Nocebo-Effekt

DocCheck: Nocebo: Der böse Bruder von Placebo

DFG Placebo Forschergruppe

 

 

Themen: DZVhÄ Homöopathie.Blog | 7 Kommentare »

7 Kommentare to “Keine Medizin ohne Placebo-Effekt”

  1. Norbert Aust schreibt:
    29th.Mai 2013 um 18:55

    Ich fühle mich in meine Zeit als Primaner im Deutschunterricht zurückversetzt: Was will uns der Dichter damit sagen?

  2. DZVhÄ Homöopathie.Blog schreibt:
    3rd.Juni 2013 um 11:12

    @Aust: Und was ist Ihre Interpretation? Geben Sie uns Ihre Lesermeinung zum Thema. – Gerne auch als „Primaner im Deutschunterricht“.

  3. Klaus Binding schreibt:
    3rd.Juni 2013 um 14:24

    Sebstverständlich gibt es den Placebo-Effekt,auch Hahnemann erwähnt ihn im Organon,eingebildete Beschwerden oder „Verhexungen“ werden durch gute Zurede entkräftet. Sicher können auch akute Beschwerden positiv durch unarzneiliche Verordnungen gebessert werden… aber wozu ? wenn die korrekte klass.-homöopathische Verschreibung echte Heilung bringt, als Notanker für schlechte Verschreiber ? Als Entschuldigung für homöopathische Heilerfolge, die wissenschaftlich schwer erklärbar sind? Und, chronische Erkrankungen auf miasmatischer Grundlage werden keiner Scheinbehandlung weichen; und wer wird auf Scheinbehandlung zurückgreifen, wenn er homöopathisch zu Heilen im Stande ist? Auch die moralische Frage ist nicht unproblematisch: Lüge bleibt Lüge (Unwahrheit), auch wenn sie einem „guten“ Zweck dienen soll, sie belastet den Lügner wie den Belogenen. Wir sollten den Placebo-Effekt nicht ins Vokabular der homöopathischen Heilgesetze eingliedern, zumal er den Anforderungen an gesetzmäßige Heilung im Sinne des Hering’schen Gesetzes nicht standhält.
    liebe Grüße aus Niedersachsen, Klaus Binding

  4. Lothar Brunke schreibt:
    5th.Juni 2013 um 05:32

    These des Beitrages von Herrn Bendig lautet:
    „Während der Begriff Placebo-Effekt auch heute noch als Synonym für „Wirkungslosigkeit“ oder „nur eingebildeter Nutzen“ aufgefasst wird, zeigen jüngere Erkenntnisse, dass die Sache ganz anders liegt: Der Placebo-Effekt löst „echte“ physiologische Prozesse im Körper aus, die eine Heilung des Patienten bewirken kann. – Nachhaltig.2“
    Als Beleg wird angeführt: „Patienten mit Scheinoperation waren nach der Heilungsphase genauso zufrieden, wie die Gruppe mit echten Operationen – auch noch bei der Befragung nach zwei Jahren.“
    Das klingt in der zitierten Literatur bereits ganz anders:
    Da die experimentelle Placeboforschung zeigt, welchen Nutzen der Patient aus einer Placebogabe
    ziehen kann (z. B. Verringerung von Nebenwirkungen), so hält die Mehrheit der Mitglieder des Arbeitskreises aus ethischer Sicht die bewusste Anwendung von reinem Placebo oder
    sogenanntem „Pseudo-Placebo“ in der therapeutischen Praxis (außerhalb Klinischer Studien)durchaus für vertretbar, und zwar unter folgenden Voraussetzungen und unter Beachtung der
    herrschenden Rechtsauffassung:
    D Es ist keine geprüfte wirksame (Pharmako-)therapie vorhanden.
    D Es handelt sich um relativ geringe Beschwerden und es liegt der ausdrückliche Wunsch
    des Patienten nach einer Behandlung vor
    D Es besteht Aussicht auf Erfolg einer Placebobehandlung.bei dieser Erkrankung

    http://www.bundesaerztekammer.de/downloads/Placebo_LF_1_17012011.pdf

    Soweit von Herrn Bendig behauptet wird, dass der „Placeboeffekt“ physioklogische Prozesse im Körper auslöse, muss hinterfragt werden, ob es tatsächlich der Placeboeffekt ist, der die physiologischen Prozesse auslöst, oder vielmehr die therapeutische Umgebung und das Voodoo-Gehabe einiger Geistheiler.
    Das Placebo selbst ohne therapeutische Umgebung und in Unkenntnis des Patienten gegeben sollte gerade keinerlei medizinische Wirksamkeit entfalten.
    Aus den Darlegungen selbst ist nicht zu entnehmen, was hier als Placeboeffekt überhaupt verstanden werden soll

    Die Autoren Elisabeth Ernst-Hieber und Steffen Hieber (S. 9,Wirkt eine homöopathische Hochpotenz anders als ein Placebo?, Hippokratesverlag Stuttgart 1995) unterscheiden dementsprechend vier Klassen von Placebo:
    1. „Wahre“ Placebos, damit sind Substanzen ohne pharmakologische Wirkung gemeint, wie Kochsalzlösungen, Michzucker u.a.
    2. „Pseudomedikamente“, dabei handelt es sich sehr wohl um Medikamente mit einer pharmakologischen Wirkung, jedoch sind diese Substanzen nicht für die spezifische Erkrankungen relevant: z. B. Aspirin bei Schwerhörigkeit oder einer Antibiotikagabe bei einer Viruserkrankung.
    3. Die Verabreichung einer Substanz, die zwar für das jeweilige Leiden relevant wäre, aber in viel zu niedriger Dosierung gegeben wird, als dass ein Effekt auftreten könnte (z. B. Phytotherapeutika).
    4. Psychotherapeutische, diagnostische oder operative Maßnahmen, bei denen es klar ersichtlich ist, dass sie keine Erfolge für die jeweilige Symptomatik erbringen können, fallen in diese vierte Kategorie. Hier wäre z. B. die chirurgisch durchgeführte Unterbindung der Arteria mammaria interna zur Behandlung der Angina pectoris zu nennen (Kuschinsky, 1975).

    Wer nur die therapeutische Umgebung betrachtet stellt fest, dass diese bereits eine Erwartungshaltung bewirken kann, welche zur Heilung von Krankheiten beitragen kann. Das bleibt unbestritten.
    Bestritten wird jedoch, dass die Gabe von homöopathischen Mitteln irgendetwas mit Placebos zu tun hat.
    Sachgerechtes Kriterium für die Placebowirkung wäre die Gabe von homöopathischem Mittel an einen Patienten oder Probanden im Vergleich mit reinem Milchzucker in der übereinstimmenden Unkenntnis der Gabe des Mittels in beiden Fällen.
    Solche Versuche wurden nach meiner Kenntnis noch nie durchgeführt.
    Der Versuch analog Nash wäre dafür bestens geeignet und wurde im Blog früher beschrieben. Für jeden Homöopathen ist bei diesem Versuch deutlich klar, dass das Placebo keine Wirkung auf den Patienten ausübt, das homöopathische Mittel dagegen schon.

  5. Inga Steinmüller schreibt:
    15th.Juli 2013 um 06:40

    Was mich jetzt noch interessieren würde, wäre die Frage, wie der Arzt entscheidet, wem er diese Behandlung verordnet. Und wie sieht es mit der rechtlichen Komponente aus, wenn eine Behandlung „gar nicht“ stattgefunden hat und es dem Patienten nun schlechter geht.

  6. Wahl-Interviews: Piratenpartei lehnt die Homöopathie entschieden ab – ungefragt | DZVhÄ Homöopathie.Blog schreibt:
    27th.August 2013 um 08:02

    […] bezweifelt, dass es positive Studien zur Homöopathie gibt. Entsprechend hält sie den Ausbau der Forschung zum Placebo-Effekt für erstrebenswert, „weil die Homöopathie ausschließlich auf diesem beruht.“ Die Piraten […]

  7. Ulrich Eckardt schreibt:
    21st.Dezember 2013 um 16:17

    Es kommt darauf an, ob ein Klient an die Wirkung eines Medikamentes glaubt, nicht unbedingt, ob ein Medikament wirkt.

    Die Aufgabe sollte sein, Menschen zu helfen. Alles andere ist doch irrelevant.
    Auch in Trance kann man die Wirkung von Medikamenten suggerieren, natürlich ohne Nebenwirkungen.

    Man sollte sich vor einer medikamentösen Behandlung einmal darüber Gedanken machen, was die Krankheit dem Kranken mitteilen möchte. Dieser Aspekt wird all zu oft vergessen. Denn auch wenn eine Symptom mit Medikamenten unterdrückt wird, so wird sich die Psyche eine anderen Möglichkeit suchen, ihre Belastung zu äußern.

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